Wen siehst du?

Ich schaue ihm bei seiner Arbeit zu. Er schneidet ein Video, eine Werbung. Eine, mit der uns suggeriert wird, alles läuft perfekt. Klar, durch ihn sehe ich beide Seiten, die auf seinem Bildschirm gerade und auch die hinter der Kamera. Trotzdem stelle ich mir manchmal vor, wie es wäre, eine Werbung zu sein. Sind wir nicht alle in manchen Momenten Werbungen von uns selbst? Momente, in denen wir uns präsentieren und ein Schein von unserer Wirklichkeit sind. Darüber habe ich letztens nachgedacht:

Wäre ich eine Werbung, wäre ich perfekt.
Es gäbe keine Narben, weil ich mit Zwei auf eine Spielzeugkiste gefallen oder mit Acht mit meinem Fahrrad die Treppe heruntergefallen bin.
Es gäbe auch keine Narben von dem Moment, als ich Angst um meinen Vater hatte oder von dem, als mein Opa gestorben ist.
Es gäbe auch keine, weil sich der Junge in seine beste Freundin verliebt hat und nicht in mich.
Mein Körper wäre makellos.
Es gäbe auch keine schlechten Noten, keine zerplatzten Träume, keine Ängste und keine Sorgen.
Es gäbe mich in einem Hochglanzformat.
Man würde mein Lächeln sehen, aber nicht die drei Jahre Zahnspange. Man würde meine Haare sehen, aber nicht das zweistündige Stylen. Man würde meinen Körper sehen, aber nicht die Momente, in denen ich den Kühlschrank hungrig wieder geschlossen habe. Man würde meine Freunde sehen, aber nicht die Momente, in denen ich mich alleine fühle. Man sieht die perfekte Version von mir.

Die, die man vielleicht auf den ersten Blick bemerkt, im Vorbeigehen ohne genauer hinzusehen.

Dann gehen die Lichter in der Werbung aus. Die Produktionsleiterin, das Kamerateam und alle noch so wichtigen Leute gehen nach Hause und es wird sich abgeschminkt.

Die Narben kommen zum Vorschein. Der auferlegte Schein wird zusammengeknüllt in den Müll geworfen. Jetzt sieht man mich.
Mich am Fenster stehen, den Sonnenuntergang betrachten und mich über die Möwen vor dem Fenster freuen. Da stehe ich und denke nach über das Sein und den Schein. Wer bin ich und wie siehst du mich?
Erkennst du mich oder nur die Werbung meiner Selbst?


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Denn ich bin mehr als das schöne Lächeln und die Tränen vor Glück.
Ich bin auf dem Boden sitzen und nach Luft ringen, ein großes Drama um ein kleines Problem spinnen oder einfach nur im Regen spazieren. Ich bin zu viel nachdenken über eine Kleinigkeit, dich anmeckern, wenn ich gestresst bin und lieber die Negativperspektive erzählen.
Ich bin ein bisschen von beidem. Und trotzdem manchmal vor Glück weinen und dich in meine Arme schließen.
Eigentlich sollte uns allen bewusst sein, dass wir mehr sind. Mehr das Hochglanzformat und gleichzeitig die Schwarzweißkopie.

Wir sind alle mal das Ideal der anderen und im nächsten Moment das Negativbeispiel. Aber vielleicht brauchen wir dieses Durcheinander, um zu erkennen, was letztlich zählt. Alles zusammen. Jede Narbe, jede Träne und jedes Lachen vor purer Freude. Alles macht uns aus.

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